Offener Brief: Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel РRussland-Beziehungen auf unn̦tig schlechtem Weg

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin Dr. Merkel,

In großer Sorge schreibe ich Ihnen, weil das derzeitige Verhalten der Bundesregierung weitere gravierende Verschlechterungen im Verhältnis zu unserem russischen Nachbarn befürchten lässt, die anschließend schwer zu reparieren sein werden.

  1. Gedenken: 27. d. M., Auschwitz – Teilnahme SE Herr Präsident Putin

Deutschlands polnische Verbündete und Nachbarn haben Präsident Putin bisher nicht zu den Gedenkfeierlichkeiten zum 70. Jahrestag des Konzentrationslagers Auschwitz dortselbst eingeladen; er plant deshalb bisher nicht, daran teilzunehmen.

Es erscheint vollkommen unangemessen und höchst bedauerlich, dass Deutschland bisher nicht alles versucht hat, um die polnischen Freunde, Verbündeten und Nachbarn für die gute Idee einer friedensfördernden und de-eskalierenden formvollendeten Einladung an den Präsidenten der Russischen Föderation zu gewinnen.

Die Toten des II. Weltkriegs, vor allem die ermordeten Insassen der entsetzlichen Konzentrationslager der Nazizeit, wünschen sich Frieden in Gerechtigkeit und Versöhnung an ihren Gräbern. Dies ist Mahnung an die folgenden Generationen in Europa und der Welt sowie gleichzeitig eine bleibende Verpflichtung.

Sowjetische Truppen haben das KZ Auschwitz vor 70 Jahren befreit, 27 Millionen Sowjets haben im II. Weltkrieg ihr Leben verloren. Es erscheint untragbar, dass wir überhaupt darüber nachdenken, es könne eine Gedenkfeier in Auschwitz ohne den russischen Präsidenten geben.

Sie, sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin Dr. Merkel, werden deshalb höflichst gebeten, alles nur Mögliche schnellstens zu unternehmen, um eine Teilnahme SE des russischen Präsidenten Putin an der Gedenkfeier in Auschwitz zum 70. Jahrestag der Befreiung dieses fürchterlichsten aller Lager zu ermöglichen.

Deutschland darf auf gar keinen Fall zulassen, dass über den Gräbern der Vergangenheit wegen heutiger Differenzen gestritten wird – und ist in besonderem Maße verpflichtet, sich an der Beilegung solcher Differenzen höchst aktiv und unter Aufbietung aller Kräfte zu beteiligen. Notfalls, wenn die polnischen Freunde sich wider alles Erwarten und ihre großzügige und ehrenhafte Natur nicht erweichen lassen, muss Deutschland zu diesem Gedenktag mit den russischen Nachbarn einen besonderen Weg zum gemeinsamen Gedenken finden, der Würde und Frieden aller Opfer wahren helfen kann.

Vor allem gilt: Weiteres Zuwarten durch die Bundesregierung in diesem Fall, weiterhin offensichtlich zu geringfügiger Einsatz der Bundesregierung für eine positive Lösung des Problems kündigt den vor allem mit dem Untergang der Sowjetunion und dem Ende des Kalten Krieges herausgebildeten Konsens auf, den ungeheuren Verlust an Menschenleben und Gütern durch die Nazi-Kriegführung in der damaligen Sowjetunion zu würdigen und zu ehren.

Deutschland nimmt heute glücklicherweise die Nachbarschaftspolitik auch mit kleineren mittelosteuropäischen Staaten ernst und erfüllt sie mit Leben. Wenn wir darüber jedoch die besonderen Beziehungen zum großen europäischen Nachbarn Russland schleifen oder sich verschlechtern lassen, ohne Not und Grenzen, dann werden grundlegende deutsche und europäische Interessen nicht nur verletzt, sondern geradezu mit Füßen getreten.

Wenn also das ungeheure Leid des II. Weltkrieges und das Gedenken daran heute einen Sinn erhalten oder behalten kann, dann doch nur dadurch, dass wir gerade diese Anlässe bewusst nutzen, um erneut den guten Weg zum europäischen Nachbarn zu suchen – und eben gerade nicht die Differenzen das Gedenken und die Menschlichkeit überwuchern lassen.

Mut und Anreiz zur neuerlichen großen Anstrengung in dieser Angelegenheit bringt möglicherweise auch die kraftvolle Wirkung des Gedenkens in der Normandie, zum Jahrestag der Landung alliierter Truppen: Sie hat zu einem eigenen Gesprächsformat zwischen Russland, Frankreich, der Ukraine und Deutschland geführt, dem so genannten „Normandie-Format“.

Damit bleibt festzuhalten: Gemeinsames Gedenken, gegenseitige Achtung, gemeinschaftlicher Wille zu Frieden und Verständigung können alle Schwierigkeiten überwinden. Dafür nicht alles einzusetzen steht Deutschland weder zu, noch dient es deutschen und europäischen Interessen – noch erscheint es irgendwie anderweitig ratsam.

  1. „Petersburger Dialog“ (PD) und „Deutsch-Russisches Forum“ (DRF)

Mehreren größeren Pressebeiträgen war in den letzten Monaten zu entnehmen, dass Ihrerseits Unzufriedenheit bestehe mit Strategie und Vorgehen in der Leitung beider Organisationen. Da aus Ihrem Hause dazu weder offener noch nicht-öffentlicher Widerspruch erfolgt ist, müssen alle Beobachter schließen, dass diese Berichterstattung in diesem Punkt korrekt ist. Die befassten Personen wissen von wenig sensiblen Eingriffen in die Arbeit beider Organisationen und von Maßnahmen gegen leitendes Personal und gegen wichtige Vorstöße zur Verbesserung der deutsch-russischen Beziehungen zu berichten. Dass Deutschland Visafreiheit mit Albanien und Moldova hat, nicht jedoch mit Russland, ist eine Groteske, widerspricht deutschen und europäischen Interessen – und mag insgesamt als symptomatisch für Ihre Russland-Politik gelten. Dabei hatten Sie doch gerade die Visafrage 2011 noch öffentlich zur „Chefsache“ erklärt – vermutlich unter Druck der Missstimmung und Kritik aus den Reihen der Mitglieder dieser beiden NRO. Wer hätte das damals geahnt: Offenbar kann eine solche Kanzler-Erklärung auch unangenehm destruktive Wirkung entfalten.

Zunächst einmal alarmiert das Vorgehen des Kanzleramts gegenüber Führung, Politik und Mitgliedern dieser beiden NRO als undemokratisch und ungeeignet, das wichtige Zusammenwirken zwischen Regierung und Zivilgesellschaft zu befördern. Inzwischen steht zu befürchten, dass der gemeinschaftliche Druck aus Regierung und ihr zugewandten Medien dazu führen könnte, dass eine freie und demokratische Meinungsbildung in den genannten Organisationen beeinträchtigt wird. Einzelne Mitglieder oder Funktionsträger können unter unziemlichen Druck geraten, sich bei anstehenden Abstimmungen in besonderer Weise zu verhalten, um möglichen Nachteilen aus Politik und/oder Medien zu entgehen.

Derartige Einflussnahmen auf NRO kennen wir aus Staaten mit geringerer demokratischer Glaubwürdigkeit, gerade auch Deutschland hat dem russischen Nachbarn wiederholt solche Dinge vorgeworfen und vorgehalten.

Die Verschlechterung der EU-Russland-Beziehungen in den letzten 15 Monaten geht zuallererst auf Wünsche und Vorstellungen unserer US-amerikanischen Freunde und Verbündeten zurück, die nicht nur weder im deutschen noch im europäischen Interesse liegen: Diese Politik wird auch vor allem in Deutschland von einer großen Mehrheit der Bevölkerung trotz intensiver Medieneinwirkung nicht befürwortet. Die schlecht beratene Sanktionspolitik hat Ausweitungen des US-russischen Handels ergeben – und Milliardenschäden in Deutschland und EU. Alle Beobachter sind sich einig, dass Russland nicht nur nicht bewegt wurde, seine Politik zu ändern, sondern auch die Aussicht auf eine solche Änderung selbst bei Inkaufnahme weiterer und noch höherer Schäden und Verluste keineswegs steigt. Eine solche Politik ist nur noch als selbstschädigend zu bezeichnen – und widerspricht darüber hinaus Ihrem Amtseid, sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin.

Sie könnten nun mit Fug und Recht – und mit begründeter Hoffnung auf offene Ohren bei den US-amerikanischen Freunden und Verbündeten – darauf hinweisen, dass weitere Verschlechterungen auf entschiedenen Widerstand der Zivilgesellschaft stoßen – und die bisherigen Probleme ebenfalls so nicht länger akzeptiert werden können. Doch eben diese Zivilgesellschaft, beziehungsweise deren wichtigste Organisationen im Verhältnis zu Russland, beschneiden Sie soeben mit demokratisch fragwürdigem Verhalten in deren rechtmäßigen und konstruktiven Einwirkungswünschen und -möglichkeiten – damit nehmen Sie sich selbst ohne Not hoch wichtige Argumente im deutsch-amerikanischen Dialog.

Dieses Vorgehen erscheint nunmehr kaum noch vermittelbar.

Wo die Verschlechterung der Russland-Beziehungen mit dem innen- und außenpolitischen Verhalten unseres Nachbarn begründet wird, fehlen Nato, EU und Deutschland inzwischen leider auch Berechtigung und Glaubwürdigkeit zu derartiger Kritik. Von der deutschen Kooperation mit der US-amerikanischen Folterorganisation bis hin zu gravierenden Verfehlungen auf dem Balkan, in Afghanistan, Irak, Libyen und Syrien, Verwicklung oder Beteiligung des Verfassungsschutzes oder der Polizei an ganzen Mordserien oder Einzeltaten gegen Migranten – was konkret haben wir Russland noch vorzuwerfen, das wir nicht auch, wenn auch fallweise womöglich abgeschwächt, selbst schuldhaft und zumindest gemeinsam mit Verbündeten begangen haben?

Schlimmer noch: Die (Folge-)Kosten der unseligen Invasion in den Irak 2003 für die US-Freunde werden fachkundig mit drei Billionen US-Dollar beziffert. Was, sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, haben Sie damals unternommen, um unsere Freunde von diesem rechtlich problematischen, gefährlichen und schädlichen Irrweg abzuhalten, wie es tatsächliche Freundespflicht gewesen wäre?

Heute irren diese unsere Freunde in ihrer Frontstellung gegen Russland erneut, diesmal mit möglicherweise fatalen Folgen historischen Ausmaßes für alle Verbündeten. Schon wird wieder gehetzt und gerüstet – bis in den nuklearen Bereich, alles bei entsprechender offizieller Rhetorik. Darf ich Sie fragen: Was tun Sie heute, um nunmehr zu belegen, dass Freundschaft und Komplizentum restlos unvereinbar sind?

Erneut, wie schon 2003, erhalten Sie kluge Hinweise auf mögliche de-eskalierende Sprachregelungen und/oder Verhaltensweisen. Warum zeigen Sie sich nicht nur ohne Not wenig beratungsbereit und -fähig, sondern vielmehr damit beschäftigt, eher das demokratische Miteinander hintanzustellen als politische Zielsetzungen und Vorgehensweisen, die deutschen, europäischen und wohlverstandenen US-amerikanischen Interessen zugleich und direkt schaden?

Letzte Frage: Wer oder was treibt Sie in derartige und offensichtliche Abenteuer – noch dazu mit der jetzigen unangemessenen Geschwindigkeit?

Mit guten Wünschen zum neuen Jahr 2015 verbleibe ich

mit freundlichen Grüßen

Christoph R. Hörstel

Bundesvorsitzender Deutsche Mitte

 

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